Kreislauf des Lebens

„Philosophie faszinierte mich schon immer. Als Schülerin verstand ich zwar den Sinn dieses Gedichts von Hermann Hesse, in dessen Tiefe ich jedoch erst als erwachsene Frau eingetaucht bin. Fühlen wir uns bei einem Menschen, einer Arbeitsstelle oder an einem Ort zuhause und geborgen, so kann sich das bald wieder ändern. Wir dürfen lernen, unser Leben als immer währende Bewegung und nicht als Stillstand zu betrachten. Es fällt auch mir nicht leicht, mich diesem Kreislauf hinzugeben. Dennoch ist es beruhigend zu wissen, dass traurige Abschnitte genauso zu Ende gehen und wir ein neues Kapitel in unserem Dasein aufschlagen.“

Wie jede Blüte welkt und jede Jugend
Dem Alter weicht, blüht jede Lebensstufe,
Blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
Zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muß das Herz bei jedem Lebensrufe
Bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
Um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
In andre, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
Der uns beschützt und der uns hilft, zu leben.

Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
An keinem wie an einer Heimat hängen,
Der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
Er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten.
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
Und traulich eingewohnt, so droht Erschlaffen,
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
Mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.

Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
Uns neuen Räumen jung entgegen senden,
Des Lebens Ruf an uns wird niemals enden…
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!

Hermann Hesse